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Fernbeziehung - Über Telemedizin und Computertherapeuten

 

Im Mai beschloss der Deutsche Ärztetag eine Lockerung des sogenannten Fernbehandlungsverbotes. Ärzte sollen künftig auch Patienten, die sie noch nie persönlich kennengelernt haben, beraten und behandeln dürfen - also etwa per Videochat. Wird die Telemedizin uns voranbringen oder wird sie die Medizin entmenschlichen?

Von Martina Keller

Eine Ärztin sitzt an dem das Pilotprojekts zur Telemedizin "DocDirect" vor ihrem Laptop und hat das Programm geöffnet. Per Telefon oder Videotelefonie bekommen Patienten in Stuttgart und Tuttlingen medizinische Beratung von niedergelassenen Ärzten.  (dpa / Sebastian Gollnow)
Eine Ärztin sitzt an dem das Pilotprojekts zur Telemedizin "DocDirect" vor ihrem Laptop und hat das Programm geöffnet. Per Telefon oder Videotelefonie bekommen Patienten in Stuttgart und Tuttlingen medizinische Beratung von niedergelassenen Ärzten.

Karola Tiedemann: "Ich mach mich dann mal vom Acker."

Sprechstundenhilfe: "Ich hab das jetzt rübergemailt, ne?"

 

Praxisassistentin Karola Tiedemann bricht zu einem Hausbesuch auf. Es ist kein gewöhnlicher Hausbesuch.

 

Karola Tiedemann: "Es ist nicht so, wie wir ihn vor anderthalb Jahren gemacht haben, nur ausgerüstet mit einem Stethoskop und einer Blutdruckmanschette. Wir haben jetzt die Möglichkeit, vor Ort auch EKG, Lungenfunktion, Oximetrien durchzuführen, eine Wunddokumentation können wir machen, und ganz besonders ist, dass wir die Videotelefonie mit einbringen können, indem ich direkt den Doktor aufs Tablet bekomme und er auch den Sichtkontakt zum Patienten hat."

Karola Tiedemann: "Es ist nicht so, wie wir ihn vor anderthalb Jahren gemacht haben, nur ausgerüstet mit einem Stethoskop und einer Blutdruckmanschette. Wir haben jetzt die Möglichkeit, vor Ort auch EKG, Lungenfunktion, Oximetrien durchzuführen, eine Wunddokumentation können wir machen, und ganz besonders ist, dass wir die Videotelefonie mit einbringen können, indem ich direkt den Doktor aufs Tablet bekomme und er auch den Sichtkontakt zum Patienten hat."

Im Mai 2018 fasste der Deutsche Ärztetag einen wegweisenden Beschluss. Das sogenannte Fernbehandlungsverbot wurde gelockert. Ärzte sollen künftig auch Patienten, die sie noch nie kennengelernt haben, telemedizinisch beraten und behandeln dürfen. Telemedizin ist Realität, die technische Entwicklung unaufhaltsam. Aber wie werden wir sie gestalten? Wird Telemedizin uns voranbringen oder wird sie die Medizin entmenschlichen?

Karola Tiedemann: "So, wir sind jetzt bei Frau Breier, und da woll‘n wir mal schauen, ob sie heute in ihrem Wohnzimmer es geschafft hat oder noch im Bett liegt."

Ein Einfamilienhaus in der Umgebung von Lübeck. Hier lebt eine ältere Dame, die von ihrem Sohn gepflegt wird.

Karola Tiedemann: "Hallo Herr Breier." Der Sohn führt Karola Tiedemann ins Wohnzimmer.

Karola Tiedemann: "Hallo Frau Breier"

Frau Breier: "Ja, Hallo"

Tiedemann: "Sie liegen ja noch im Bett"

Breier: "Wieder!"

Tiedemann: "Wieder?"

Breier: "Wieder, ja!"

Tiedemann: "Machen Sie Mittagsschlaf?"

 

Menschwürdige Versorgung ermöglichen

Ulrich von Rath: "Es geht darum, die Hausbesuchsversorgung von immobil gewordenen, insbesondere älteren Menschen drastisch zu verbessern. Deutschland wird immobiler, der Hausbesuchsbedarf nimmt zu, die Ärztezahl nimmt ab."

Der Allgemeinmediziner Ulrich von Rath praktiziert in Lübeck-Travemünde. Seine Patienten kommen teils aus der Stadt, teils aus dem Umland.

Ulrich von Rath: "Mich treibt die Sorge um, wie wir die Versorgung in Deutschland überhaupt noch aufrechterhalten können. Ich arbeite viele Tage zwölf bis 14 Stunden und ich möchte gerne, dass die Versorgung menschenwürdig ist. Deswegen interessiere ich mich sehr für die Telemedizin, und wir haben hier mehrere Projekte am Start diesbezüglich."

Karola Tiedemann:"So, ich mach heute noch mal ein EKG und mess den Blutdruck, ich pack mich mal eben hier aus…" Karola Tiedemann hat einen kleinen Koffer bei sich, der die Aufschrift Telearzt trägt. Er enthält modernstes Equipment.

Karola Tiedemann: "So, jetzt will ich einmal das EKG hier drauf legen und einmal die EKG Daten schreiben."

Das EKG-Gerät ist nur handtellergroß, Tiedemann hat es auf die Brust der Patientin gelegt.

Automat: "EKG-Daten werden empfangen, bitte warten, EKG-Daten erfolgreich empfangen, übermittle Daten an Server."

Karola Tiedemann: "Super"

Automat: "Bitte warten, Übermittlung der Daten war erfolgreich."

Karola Tiedemann: "EKG-Daten hat schon mal geklappt. Ich würde jetzt einmal tatsächlich noch mal den Blutdruck messen, ja?"

Während Praxisassistentin Karola Tiedemann ihren Hausbesuch beginnt, führt von Rath seine Sprechstunde weiter. Sollten Probleme auftauchen, schaltet sie ihn per Videotelefonie zu.

Ulrich von Rath: "Wir können entweder da, wo es ungeplant notwendig ist, oder da, wo es gewollt ist, direkt unsere Patienten hören und sprechen und sehen … Ich kann mir ein möglicherweise neu aufgetretenes dickes Bein anschauen und damit auch eine Einschätzung haben: Muss ich nur ein Medikament jetzt anpassen, damit das Bein wieder schlank wird, oder ist hier Gefahr in Verzug." Der durch Telemedizin unterstützte Hausbesuch ist nur eins der Pilotprojekte, an denen Ulrich von Rath mit seiner Praxis teilnimmt. Wissenschaftlicher Partner ist das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, hier leitet Jost Steinhäuser das Institut für Allgemeinmedizin.

Jost Steinhäuser: "Wir führen aktuell eine ganze Serie an verschiedenen Studien durch, hier geht es primär mal um Telemedizin für den sogenannten ländlichen Raum, das heißt die Fragestellungen, mit welchen technischen Möglichkeiten kann man zu welchen Erkrankungen möglicherweise hilfreich die Versorgung zusätzlich gestalten." In der ambulanten Versorgung auf dem Land geht es darum, unnötige Wege oder Fahrzeiten zu vermeiden. Dabei könnte auch die sogenannte Liaisonsprechstunde helfen.

Jost Steinhäuser: "Unser Modell dahinter ist, dass der Patient zu seinem Hausarzt in die Praxis geht und dort mit seinem Hausarzt gemeinsam die Konsultation mit einem Spezialisten durchführt. Auf die Art und Weise muss der Patient selber keine technischen Geräte vorhalten, er muss sich in kein Gerät hineinarbeiten. Und gleichzeitig ist der Hausarzt immer dabei, der für die Kontinuität der Versorgung sorgen kann, sprich dass er auch die Empfehlungen des Spezialisten a) diskutieren und b) dann auch im Zweifelsfall umsetzen kann."

Die Liasonsprechstunde per Videotelefonie soll sich bei Hautproblemen, Rheuma und Augenerkrankungen bewähren.

Ulrich von Rath: "Meine Vision, speziell für die augenheilkundliche Versorgung der Diabetiker ist, dass zumindest ein Teil der Routinekontrollen nicht mehr beim Augenarzt stattfinden muss, sondern dass das telemedizinisch möglich ist. Das würde die Fahrtbelastung von älteren Menschen in ländlichen Regionen drastisch entlasten und wäre wirklich ein Akt der Menschenfreundlichkeit."

 

Hilfe vom Telenotarzt

Die wissenschaftliche Auswertung ist fest eingeplant, allerdings stehen die Lübecker Pilotprojekte noch ganz am Anfang. Andere Initiativen sind da schon weiter. In der Region Aachen zum Beispiel der sogenannten Telenotarzt, ein System, das sich im Pilotprojekt Temras bewährt hat.

Robert Deisz: "Temras war ein telemedizinisches Rettungsassistenzsystem und hatte zum Ziel, eine mobile Datenaustauschlösung von Bild, Video-, Audiodaten, von EKG-Daten aus der Notfallsituation beispielsweise aus der Wohnung des Patienten, aber auch aus dem Rettungswagen heraus in eine Telenotarztzentrale, einen Leitstand, wenn Sie so wollen, der auf der Feuerwehr in Aachen hier lokalisiert ist, zu übertragen." Robert Deisz ist Anästhesist am Universitätsklinikum Aachen und einer der beiden Leiter des Telemedizin-Zentrums.

Robert Deisz: "Und dieses Projekt hat gezeigt, dass man mit der Ausstattung der Rettungswagen, mit dieser Telemetrieanlage, wenn Sie so wollen, sehr viel schneller ein therapiefreies Intervall, das entsteht, wenn der Notarzt noch nicht vor Ort ist, überbrücken kann. Dass man mit hoher Sicherheit durch die Überwachung eines Arztes, der auf der Feuerwehr in der Telenotarztzentrale sitzt, gewisse Dinge delegieren kann an die Rettungsassistenten… Das heißt: Der Patient erhält die richtige Therapie unter ärztlicher Überwachung durch speziell ausgebildete Rettungsassistenten." Mehr als 12.000 Patienten wurden in vier Jahren vom Telenotarzt betreut - schneller und besser, sagen die Initiatoren. Zum Beispiel bekamen Herzinfarktpatienten in 98 Prozent der Fälle genau dann - und nur dann - Sauerstoff, wenn die medizinischen Leitlinien das vorsahen. Ohne Telenotarzt waren es 70 Prozent. Und noch einen Effekt hat das Projekt: "Man stellt fest, dass im Gegensatz zu vielen anderen Rettungsdienstbereichen in Aachen die Notarztquote, also dieser Anteil an Rettungseinsätzen, bei denen ein Notarzt erforderlich ist, beziehungsweise ausgesandt wird, sinkt, im Gegensatz zum bundesweiten Trend, wo die sogenannte Notarztquote steigt."

Ein Telenotarzt kann in derselben Zeit doppelt so viele Patienten versorgen wie ein normaler Notarzt. Man braucht also im Prinzip nur noch halb so viele Ärzte im Notdienst. Doch genau das bereitet manchem Kollegen Sorge. Telemedizin könnte nicht nur eine Maßnahme sein, um dem bekannten Ärztemangel in der Intensivmedizin zu begegnen. Sie könnte auch helfen, Ärzte einzusparen.

Robert Deisz: "Ich glaube, man kann diese Fragen nicht hundertprozentig trennscharf voneinander abgrenzen. Es handelt sich um ein System, das ergänzend zum traditionellen Arztberuf dazu dient, die Behandlungsqualität zu verbessern. Ja: Und es ist - sei nun ein Ärztemangel oder ein demographischer Mehrbedarf vorhanden oder nicht - eben Realität, dass wir bestimmte Spezialisierungen wie zum Beispiel Infektiologen nicht überall verfügbar haben - vor zehn Jahren noch nicht und jetzt auch nicht. Und jetzt haben wir eine Möglichkeit, die Expertise wie zum Beispiel unserer Infektiologen zu transportieren."

Sandra Dohmen: "Aber jetzt... Hallo Herr Jegen!"

Aachen hat nicht nur ein Telenotarztprojekt. In der Intensivmedizin kooperiert die Universitätsklinik mit verschiedenen Regionalkrankenhäusern, etwa dem St. Elisabeth Krankenhaus in Jülich.

Rudolf Jegen: "Wie alt sind Sie, knapp 70?"

Patient: "75."

Jegen: "75-jähriger Pat, der Ende Februar mit Luftnot…"

 

Gemeinsame Visite trotz räumlicher Trennung

Vier Augen sehen mehr als zwei. Nicht nur der Jülicher Chefarzt Rudolf Jegen macht hier Visite, sondern - aus der Ferne - auch die Aachener Oberärztin Sandra Dohmen. Auf einem Monitor sieht sie den Patienten im gepunkteten Schlafanzug in seinem Bett, daneben ihr Kollege, graues Haar, weißer Kittel. Auf einem zweiten Monitor: eine elektronische Fallakte. Der 75jährige Patient ist seit langem krank. Immer wieder entzündete sich nach einem Rippenbruch sein Lungenfell. Mehrfach wurde er operiert, mehrfach gab es Komplikationen.

Rudolf Jegen: "Was war jetzt der Grund, warum Sie jetzt noch mal reingekommen sind?"

Patient: "Ich bin am letzten Dienstag entlassen worden hier aus dem Krankenhaus, und am Donnerstagabend merkte ich schon: Es geht irgendwie los, ich fühlte mich schlecht, war total abgeschlagen, das steigerte sich in der Nacht."

Die Televisite soll die Behandlung auf der Intensivstation besser und sicherer machen. Das heißt nicht, dass die Expertise der Intensivmediziner im Regionalkrankenhaus in Frage gestellt wird. Sie sind ebenso qualifiziert wie ihre Kollegen in Aachen. Nur sehen sie bestimmte schwere Erkrankungen einfach seltener: Während in Jülich pro Jahr gut 1300 Intensivpatienten behandelt werden, sind es in Aachen bis zu 5000.

Sandra Dohmen:  "Wir machen einmal täglich gemeinsam Visite, und besprechen gemeinsam den Patienten, und haben heute insbesondere besprochen, was denn die Ursache dafür ist, dass der Patient jetzt ein weiteres Mal ins Krankenhaus gekommen ist, dass sein Lungenfell entzündet ist, viel Flüssigkeit produziert und immer wieder entlastet werden muss." Sandra Dohmen fürchtet eine Sepsis, die muss früh erkannt werden, damit sie nicht tödlich endet. Dabei überschwemmen die Erreger den gesamten Körper. Doch im Fall des Jülicher Patienten scheinen die Ärzte mit Diagnose und Therapie richtig gelegen zu haben. Dem 75jährigen geht es zum Zeitpunkt der Televisite wieder recht gut. "Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir es Infektion nennen, dass wir ihn antibiotisch therapieren und abwarten, bis die nächsten Proben da sind, und haben währenddessen festgestellt, dass der Patient, der letzte Woche noch recht krank war, jetzt unter der Therapie, die durchgeführt worden ist, auch zu Recht durchgeführt worden ist, so gebessert ist, dass er heute auf Normalstation kann. Da haben wir einen sehr guten Konsens gefunden,

Sandra Dohmen: "Gut. Vielen Dank."

Rudolf Jegen: "Tschüss."

Gernot Marx: "Wenn mehr als ein Arzt Patienten betreut, ist letztlich die Qualität höher." Gernot Marx ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin und leitet gemeinsam mit Robert Deisz das Telemedizin-Zentrum in Aachen.

Gernot Marx: "Wir konnten zeigen, dass durch unsere Telemedizin-Unterstützung mehr Patienten die Sepsis in den peripheren Häusern überlebt haben als vorher, aber das Wichtigste ist eigentlich, dass wir zeigen können, dass mittels Telemedizin die Patienten wirklich jeden Tag genau gemäß den Leitlinienanforderungen behandelt werden." Die positiven Ergebnisse des Pilotversuchs waren signifikant, wie Wissenschaftler sagen, also kein Zufallsbefund. Nun gilt es, sie in einem größeren Netzwerk zu bestätigen, und Antworten auf weitere Fragen zu finden: In welcher Frequenz und mit welchem Druck müssen Patienten mit Lungenversagen beatmet werden, damit ihre Lunge so wenig wie möglich Schaden nimmt. Neben Intensivmedizinern sind Infektiologen eingebunden. Sollen zum Beispiel Patienten mit multiresistenten Keimen ein Antibiotikum bekommen, und falls ja welches, in welcher Dosis und wie lange? Solche Fragen zählen zu den größten Herausforderungen im Gesundheitswesen.

Gernot Marx: "Es gibt etwa 300 Infektiologen deutschlandweit, die in den Kliniken tätig sind - es gibt mehr, aber die sind dann eben für HIV-Patienten und so tätig. Also 300 Infektiologen für knapp 2000 Krankenhäuser. Es liegt auf der Hand, dass man nur mit solchen modernen Möglichkeiten der Digitalisierung und der Telemedizin diese Expertise vielen Patienten zu Gute kommen lassen kann." Der Innovationsfond beim Gemeinsamen Bundesausschuss finanziert das Projekt telnet@nrw drei Jahre lang mit knapp 20 Millionen Euro. Neben den Spezialisten der Universitätsklinik Aachen stellen auch die der Universitätsklinik Münster ihre Expertise zur Verfügung. Zum Netzwerk zählen 17 Regionalkrankenhäuser und 100 Arztpraxen. Bis zum Februar 2019 sollen insgesamt 40.000 Patienten für die Studie gewonnen werden.

 

"Wir wollen Evidenz schaffen"

Gernot Marx: "Es ist die größte Telemedizin-Studie Deutschlands, und wir wollen hier wirklich auch Evidenz schaffen um eben hinterher nach der Evaluierung sagen zu können: Ja, Telemedizin ist etwas Positives, Telemedizin hat wirklich nicht nur technische Erneuerungen, sondern hat wirklich Nutzen für den Patienten generiert, und deswegen ist das dann die Basis, um auch in die Regelversorgung zu kommen."

In der Psychotherapie drängen die wissenschaftliche Fachgesellschaft der Psychiater sowie die Bundespsychotherapeutenkammer seit längerem darauf, dass die Gesetzliche Krankenversicherung telemedizinische Angebote in ihren Leistungskatalog aufnimmt. Nirgendwo ist die Kluft zwischen therapeutischen Angebot und Bedarf größer. Es gibt viele verschiedene Ansätze, manche revolutionär. Fast schon konventionell mutet das Programm Net-Step an, das am St. Alexius-/ St. Josef-Krankenhaus Neuss entwickelt wurde. Ulrich Sprick ist der Chefarzt des Ambulanten Zentrums.

Ulrich Sprick: "Wir haben eine Patientin bei uns aus dem Rhein-Kreis Neuss, die die Therapie von Dubai aus weitergeführt hat. All das ist mit der Onlinetherapie möglich." Net-Step ist eine beinahe normale Psychotherapie, nur eben nicht von Angesicht zu Angesicht oder Face-to-face, wie die Experten sagen. Therapeut und Patient schreiben sich über das Internet, es geht um Ängste und Depression. Über 800 Patienten haben schon teilgenommen.

Ulrich Sprick: "Wir haben einen Vergleich durchgeführt mit einer Onlinetherapie und einer ambulanten Face-to-face-Therapie und haben keine Unterschiede zwischen beiden Therapieformen gefunden, so dass wir sagen können, die Effektivität dieser Onlinetherapie ist genauso groß wie die einer Face-to-face-Therapie."

 

Computerprogramme gegen Burn-out, Stress und Co.

Allerdings: Wesentlich mehr Behandlungen werden dadurch nicht möglich. Es braucht ja nach wie vor Therapeuten, und von denen gibt es zu wenige. Um da abzuhelfen, müsste der Computer schon selbst als Therapeut fungieren. Tatsächlich gibt es mittlerweile Hunderte von Programmen – gegen Stress und Burn-out, aber auch gegen riskanten Alkoholkonsum und Depressionen. Sie heißen DepressionsCoach, Moodgym oder Get.On. Etwa die Hälfte leiten zur Selbsthilfe an, bei anderen sind zumindest wahlweise Therapeuten dabei. Die meisten Programme haben ihren Nutzen in Studien bereits bewiesen. Mehr als die Hälfte der deutschen Krankenkassen bieten sie ihren Versicherten an – in der Regel kostenlos. Es gibt aber auch zahllose Angebote auf dem freien Markt, die kaum überprüft sind, zum Beispiel Selfapy.

Farina Schurzfeld:  "Sie müssen sich das vorstellen wie so einen klassischen E-Learning-Kurs, wenn sie im Internet oder am Rechner zum Beispiel eine Sprache lernen." Farina Schurzfeld ist eine der Gründerinnen von Selfapy, das von einer kleinen Berliner Start-up Firma entwickelt wurde.

Farina Schurzfeld: "Dann gibt es immer Bilder, es gibt erklärende Texte, es gibt Grafiken, es gibt interaktive Übungen. Und es gibt jede Woche eine Wochenaufgabe. Das heißt, jeden Tag verbringen Sie, wenn Sie jetzt den Kurs starten würden, zehn bis 15 Minuten damit, die Inhalte durchzuarbeiten, zu reflektieren, auf ihre eigene Situation, und werden, ich sag' mal, mit diesen interaktiven Elementen auch daran gebunden und es ist einfach dann ein bisschen spielerischer im Endeffekt - psychoedukativ nennt man das." Wer will, kann eine wöchentliche "psychologische Beratung" dazu buchen. Die vermeintlich "erfahrenen Psychologen" haben aber nicht unbedingt eine Therapieausbildung und teilweise nur einen Bachelor-Abschluss. Anfangs nannte sich Selfapy eine "Therapie", was der Name ja auch suggeriert. Rechtlich war das heikel. Jetzt wird "Soforthilfe bei psychischen Belastungen" versprochen. Die Macher trauen sich aber auch an schwere psychische Erkrankungen wie Magersucht und Generalisierte Angststörung. Ob Selfapy da helfen kann, ist fraglich, wissenschaftliche Überprüfung gibt es kaum. Nur einige wenige Programme auf dem Markt sind gut abgesichert.

Deprexis: "Herzlich willkommen zu Deprexis. Schön, dass Sie hier sind. Sie haben damit den wichtigsten Schritt schon gemacht. Sie haben sich dazu entschlossen, selbst aktiv zu werden und etwas für sich zu tun." Ein Dutzend Studien verschiedener Forschergruppen haben gezeigt: Deprexis kann helfen, mit Depressionen fertig zu werden. Die heute 55-jährige Diplomgeographin Astrid Johann, die schon mehrfach erkrankt ist, hat es ausprobiert. Deprexis gibt den Nutzern Anleitungen, zum Beispiel mit anderen klar und deutlich sprechen, aufrecht sitzen, nach vorne sehen, aufmerksam zuhören, dem Gegenüber keine Vorwürfe machen. Astrid Johann hat das bei heiklen Gesprächen mit ihrer Mutter geholfen. Deprexis schlägt aber auch viele Übungen vor.

Astrid Johann: "Eine Entspannungsvisualisierung. Der Sonnenuntergang am Meer. Da kann man sich dann vorstellen, es ist etwas kühler. Das Meer ist in der Ferne, die Bäume rauschen hinter mir, beruhigende Landschaft. Man atmet ruhig. Also man wird im Prinzip bei diesen Übungen drauf eingestimmt. Man soll sich erst mal hinsetzen, ruhig sein, vielleicht die Augen schließen, wenn man will. Man kann's aber auch auflassen." Richtig unterhalten können sich die Nutzer mit dem Programm allerdings eher nicht.

Astrid Johann: "Das ist schon so ein bisschen vorgefertigt, sage ich mal. Das merkt man dann so im Laufe der Zeit, da kommen dann öfters mal so Antworten: Ach, ich bin erfreut, dass sie das so gut hingekriegt haben." Lässt sich Psychotherapie mit einem Gegenüber machen, das zwar hilfreiche Übungen aufgibt und kluge Ratschläge erteilt, aber zu einem echten Gespräch nicht in der Lage ist? Harald Freyberger, Psychiatrieprofessor an der Universität Greifswald und Chefarzt des Hanseklinikums Stralsund, meint: Es kommt darauf an. Es geht bei leichten Problemen und bei Patienten, die lieber schnelle Lösungen als lange Ursachenforschung wollen. In anderen Fällen hält er menschliche Therapeutinnen oder Therapeuten für unverzichtbar.

 

Hohe  Abbrecherquoten bei unbegleiteten Therapien im Internet 

Harald Freyberger: "Wir wissen aus den Therapiestudien, dass ungefähr 15 Prozent des Therapieergebnisses über die gute Beziehung geklärt wird, zum Beispiel Techniken machen weniger aus. Und wir wissen aus der Psychotherapieforschung, dass insbesondere dann therapeutische Kontakte abgebrochen werden, überzufällig stark, wenn die Bindung, die Beziehung nicht stimmt." Hier liegt eine große Herausforderung für die neuen Psychotherapien, sagt auch Psychiatrieprofessor Martin Bohus, wissenschaftlicher Direktor am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim.

Martin Bohus: "Es ist so, dass wenn Sie eine unbegleitete Therapie im Internet beginnen, eine App oder so, haben Sie sehr hohe Abbrecherquoten." Wohl deshalb helfen unbegleitete Therapien nur etwa halb so gut wie solche, bei denen ein Therapeut im Hintergrund steht und eine gewisse Verbindlichkeit schafft. Das belegen Auswertungen von Studien. Viele Experten sehen die Zukunft daher in begleiteten Angeboten. So oder so: Der Therapeut Computer wird sich wohl weiter durchsetzen. Wer auf elektronische Therapeuten verzichten will, muss erklären, wie er die große Lücke bei der Behandlung von psychisch Kranken sonst schließen will.

Harald Freyberger: "Wir haben in der Bevölkerung etwa etwas unter zwei Prozent der Menschen, die im System drin sind, das heißt die psychiatrische oder psychotherapeutische Kontakte gesucht haben oder suchen. Und wir haben in der Bevölkerung etwa - das wissen wir aus repräsentativen Studien - sieben bis acht Prozent Menschen, die unter harten Bedingungen behandlungsbedürftig sind. Und das bedeutet, dass wir ein Gap von fünf Prozent haben. Was meinen Sie, was das für unser Gesundheitssystem und für die Finanzierung des Gesundheitssystems heißt, wenn wir das schließen?" Wäre es schlimm, wenn Psychotherapie in Zukunft zu einem großen Teil von Computern erledigt würde? Beim großen Psychiater-Kongress im Herbst 2017 zeigte Martin Bohus in seinem Vortrag das Bild einer Schreibmaschine – ein Gerät, das Computer praktisch völlig verdrängt haben. Bohus hält es für möglich, dass der Computer auch die Psychotherapeuten verdrängen wird, zumindest bei einem Großteil der Therapien. Dafür sprechen in seinen Augen die Ergebnisse zahlreicher Studien.

Martin Bohus: "Nämlich, dass wir wider unsere Erwartungen wirklich keine Unterschiede finden zwischen Psychotherapien, die eben zusammen mit einem Psychotherapeuten, also von Mensch zu Mensch, durchgeführt werden oder mit einem Selbsthilfe-geleiteten Programm, in dem manchmal ein Therapeut im Hintergrund wirkt, aber manchmal auch das Programm relativ eigenständig arbeitet."

 

Rezept via Tablet

Frau Breier: "Es juckt alles hier, da im Gesicht…"

Karola Tiedemann: "Da sieht man aber nichts. Wollen Sie sich einmal noch mal kurz aufrecht hinsetzen? Ich würde einmal eben das Hemd hochnehmen."

Breier: "Ah. Erschrecken Sie nicht, wie es da aussieht."

Die alte Dame, bei der die Lübecker Praxisassistentin Karola Tiedemann Hausbesuch macht, leidet unter starken Hautausschlägen. An Armen, Beinen und auf dem Rücken sind viele Stellen aufgekratzt.

Karola Tiedemann: "Also, in dem Fall ist es auch sehr sinnvoll, dass wir einmal den Doktor dazu holen, dass er dann eben direkt noch mal schaut und noch mal eine Idee da vielleicht entwickelt."

Karola Tiedemann fotografiert den Rücken und einen Arm der Patientin und überträgt die Fotos über eine gesicherte Verbindung in die Hausarztpraxis.

Ulrich von Rath: "Im Moment kriegen wir das Equipment durch die Universität Lübeck, …es gibt zarte Möglichkeiten, Telemedizin abzurechnen, nur: Die sind für mich noch nicht so richtig überzeugend, weil sie limitierend sind, und insbesondere jetzt in dieser Anfangsphase, wo wir gerade ja ganz viel Liebe rein geben, zahlen wir das selber." Hausarzt Ulrich von Rath hat seine Sprechstunde unterbrochen und sich für die Videokonferenz eingeloggt.

Karola Tiedemann: "Hallo."

Ulrich von Rath: "Hallihallo."

Karola Tiedemann: "Ich bin jetzt bei Frau Breier und habe Sie hier im Bett liegend vorgefunden, und das, was sie immer noch sehr quält, sind diese Stellen, die sie eben halt immer wieder am Rücken und den Armen und Beinen hat. Da bin ich persönlich eben halt sehr unsicher. Da ist das Ihr Part, letztendlich noch mal zu schauen, wo wir medikamentös noch was machen können, weil bislang da noch nichts soweit verordnet wurde." In Frau Breiers Wohnung ist der Arzt auf einem Tablet zu sehen. Die Assistentin hält es so, dass die Patientin in ihrem Bett draufschauen kann.

Ulrich von Rath: "Guten Tag, Frau Breier."

Karola Tiedemann: "Da ist der Doktor."

Karola Breier: "Ja, ja, also ja, Herr Doktor."

Ulrich von Rath: "So, Frau Breier, ich werde mir mit Frau Tiedemanns Hilfe einmal noch mal die quälenden Stellen anschauen." Ulrich von Rath ruft die Wunddokumentation auf, mit den beiden in die Praxis übertragenen Fotos.

Ulrich von Rath:  "Aaah, das ist hervorragend!" Der Arzt freut sich über die Bildqualität – und weiß Rat.

Ulrich von Rath: "Ich werd hier Ihnen eine Salbe aufschreiben, die die Ausgetrocknetheit der Haut lindert und die diesen Juckreiz relativ schnell wegnimmt, und das wird relativ schnell heilen. Einverstanden?"

Frau Breier: "Ja, das wäre gut, ja!"

Ulrich von Rath: "Das mach ich gern, ich mach das Rezept fertig."

Frau Breier: "Tschüss, Herr Doktor, ja danke schön. Ja, tschüss, ja, ja."

 

Entlastung für  die Ärzte

Mit tragbaren Messgeräten, Laptops und Internet lassen sich Räume überbrücken. Seit Bilder und Daten in Echtzeit geteilt werden können, steht der Telemedizin technisch nicht mehr viel im Weg.

Karola Tiedemann: "Die Telemedizin ist etwas, was eigentlich die Entlastung ja auch für den Arzt bringen soll. Damit er eben halt abends, wenn wir um halb acht den letzten Patienten aus unserer Praxis begleiten, nicht noch um neun oder halb zehn zu den Hausbesuchen muss. Sondern dass wir als Fachangestellte rausfahren können, den persönlichen Bezug zum Patienten haben und die Befunde erheben können und es relativ zeitgerecht irgendwo zu besprechen und der Doktor Entscheidungen treffen kann." Was jetzt noch fehlt sind Organisationsmodelle, neue Berufsbilder und nicht zuletzt eine gerechte Vergütung.

Karola Tiedemann: "Also, ich bin jetzt den ganzen Tag unterwegs gewesen, und meine Arbeit, die ich an sich in der Arztpraxis jetzt vor Ort gemacht hätte, konnte ich halt nicht leisten und abbilden. Und das ist zur Zeit so, dass wir das aus unserer Praxis heraus stemmen und dafür nicht bezahlt werden, nicht gerecht bezahlt werden, damit sich eben halt auch ein neuer Arbeitsplatz daraus erschließt. Und ich praktisch dann, wenn ich im Außendienst bin, auch ersetzt werden kann." Bekommt der Arzt bei solch einem telemedizingestützten Hausbesuch wirklich alles mit, was er braucht, um seine Patienten gut zu behandeln? Ulrich von Rath möchte sicher sein, dass er nichts übersieht.

 

Eignen sich alle Krankheitsbilder für die Telemedizin?

Ulrich von Rath: "Unser Anliegen ist, dass wir nicht einfach los telemedizieren, sondern dass wir von Anfang an uns eingestehen, was wir damit erreichen und was wir auch nicht erreichen. Deswegen würden wir die Hausbesuche, wo die Arzthelferin hingeht, und dann telemedizinische Informationen übermittelt und austauscht, ist es vorgesehen, dass die einen Dokumentationsbogen ausfüllt und wir als Ärzte die ersten wahrscheinlich 120 Hausbesuche dieser Art dann hinterherfahren, den gleichen Hausbesuch dann wiederholen, was ein großer Aufwand ist, und das genau noch mal evaluieren." Vielleicht stellt sich heraus, dass sich bestimmte Krankheitsbilder nicht für die Fernbehandlung eignen.

Ulrich von Rath: "Ich habe hier immer den Fokus auf einer Versorgung durch Ärzte, die ihre Patienten gut kennen. Ich denke lokal. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es von Fern her eine konzerngesteuerte Großversorgung gibt am Fließband, anonym, das habe ich nicht im Fokus. Für diese personenbezogene telemedizinische Versorgung stelle ich mir eine wunderbare Entkrampfung und eine sehr weisheitsvolle Entscheidung vor."